Arzneimittel ohne Mehrwert werden trotzdem verordnet – DAK-Gesundheit: AMNOG zeigt Schwachstellen im System

PRESSEMITTEILUNG – Nur jeder zweite untersuchte Arzneimittelwirkstoff weist einen Zusatznutzen auf. Gleichzeitig fällt auf, dass Arzneimittel ohne Mehrwert beträchtliche Verordnungszuwächse haben. Dies ergab der AMNOG-Report der DAK-Gesundheit zur Arzneimittelbewertung.

Nicht alle neuen Medikamente, die auf den Markt kommen, bedeuten insofern für den Patienten auch einen echten Fortschritt in der Therapie. Die Analyse berücksichtigte 58 Wirkstoffe in 64 Verfahren im Zeitraum bis 2013. Professor Wolfgang Greiner von der Universität Bielefeld hat für die DAK-Gesundheit die Wirkungen der Arzneimittelreform (AMNOG) untersucht. Nach dem Gesetz müssen neue Arzneimittel wissenschaftlich auf ihren Nutzen überprüft werden.

„Insgesamt erweist sich das AMNOG als sozialpolitisch erfolgreich und sinnvoll, weil die wissenschaftliche Bewertung von neuen Arzneimitteln die Spreu vom Weizen trennt. So können wir die Beiträge unserer Versicherten für echten Mehrwert ausgeben und nicht für Scheininnovationen“, betont Professor Herbert Rebscher, Chef der DAK-Gesundheit. „Allerdings zeigt der Report auch Schwachstellen auf, die in diesem lernenden System gemeinsam gelöst werden müssen“, so Rebscher. Professor Wolfgang Greiner, Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung im Gesundheitswesen, resümiert: „Das AMNOG hat zu einem grundlegenden Umdenken im deutschen Gesundheitswesen beigetragen, da mit ihm eine gute Evidenzbasierung einen direkten Einfluss auf die Erstattungshöhe hat. Allerdings sollte sich das System methodisch weiterentwickeln und zukünftig auch Kosten-Nutzen-Analysen einbeziehen. Verschiedene Bewertungsverfahren haben dafür inzwischen Ansatzpunkte gezeigt“.

Große Zuwächse für Arzneimittel ohne Zusatznutzen

Vier Jahre nach der Neuordnung des Arzneimittelmarktes zeigen sich auch Ungereimtheiten. Das wichtigste Ziel der Reform war, dass Medikamente ohne Zusatznutzen deutlich weniger verordnet werden. Ein überraschendes Ergebnis des DAK-AMNOG-Reports ist jedoch: Auch wenn Arzneimitteln kein therapeutischer Fortschritt bescheinigt wird, werden sie häufig verordnet. So haben Wirkstoffe ohne Zusatznutzen innerhalb des ersten Jahres nach Veröffentlichung des Prüfergebnisses beachtliche Verordnungszahlen und -zuwächse erreicht. Ein Beispiel dafür ist Fampyra, ein Medikament gegen Multiple Sklerose. Der Umsatz dieses Mittels verzehnfachte sich in den beiden Jahren nach der Prüfung, obwohl kein Zusatznutzen festgestellt wurde. „Die kritische wissenschaftliche Bewertung der Präparate würde ein anderes Verordnungsverhalten der Ärzte erwarten lassen“, sagt Rebscher. „Über die Gründe, warum Ärzte sich häufig nicht an der wissenschaftlichen Bewertung orientieren, lässt sich nur spekulieren: Möglicherweise spielen hier Informationsmängel eine Rolle.“ Das Problem der schnellen und routinehaften Verfügbarkeit von evidenzbasierten Ergebnissen im Praxisalltag wird auch bei der Nutzenbewertung deutlich und sollte im Zuge der Gründung des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG) angegangen werden.

„Boykott“ des Verfahrens kommt weniger vor als erwartet

Einige Hersteller boykottieren das AMNOG, indem keine Nutzen-Dossiers vorgelegt werden. Dadurch entziehen sie ihre neuen Mittel der Nutzenbewertung. Hersteller greifen zu diesem Weg, wenn für sie absehbar ist, dass kein Zusatznutzen erreicht werden kann. Sie geben sich mit einer Eingruppierung in die Festbetragsgruppe oder einer Vergleichsgruppe im unteren Drittel des internationalen Preisniveaus zufrieden. Der AMNOG-Report der DAK-Gesundheit ergab: Wirkstoffe ohne vorgelegte Dossier machen in der Praxis nur einen sehr geringen Umsatzanteil aller nutzenbewerteten Wirkstoffe aus. Auch der Anteil an der Gesamtzahl aller Verfahren ist gering: Von 2011 bis 2013 reichten nur sieben Hersteller kein Dossier für einen von der Nutzenbewertung erfassten Wirkstoff ein.

AMNOG führt nicht zu Versorgungsproblemen

Die Analyse des therapeutischen Mehrwerts ist Basis für die sich daran anschließende Preisfindung. Pharmaindustrie und Kostenträger zeigen eine beachtliche Erfolgsquote und Kompromissfähigkeit bei der Preisfindung. „Es ist erfreulich, dass die Verhandlungspartner sich bei drei von vier Preisverhandlungen einigen“, bilanziert Rebscher. Das restliche Viertel ohne Einigung wird bei der Schiedsstelle weiter verhandelt. Wenn Preisverhandlungen auch dort scheitern, können Pharmahersteller das Präparat vom Markt nehmen (Opt-Out). Allerdings sind von den bislang dort verhandelten 13 Präparaten nur sechs in Deutschland verfügbar. Sieben Hersteller wählten als Reaktion auf die Schiedsverfahren die Option des Opt-Outs des Präparats. Bei Einführung des AMNOG wurde von Seiten der Pharmaindustrie befürchtet, dass es durch breite Marktrücknahmen zu Versorgungsengpässen kommt. Auch wenn ein Teil der Präparate vom Markt verschwunden ist, führte dies bisher nicht zu Engpässen in der Versorgung.

Am Beispiel des Diabetes-Mittels Vildagliptin zeigt der AMNOG-Report, wie schnell und in welche Alternativtherapien eine Umstellung der Patienten erfolgte. Zwei Drittel der mit Vildagliptin bis zur Marktrücknahme versorgten DAK-Versicherten wurden von ihrem Arzt direkt innerhalb des darauf folgenden Quartals auf andere Therapien umgestellt. Knapp zwölf Prozent wurden auf vom Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) zuvor festgelegte Vergleichstherapien (Glibencalmid oder Glimepirid) umgestellt. 44 Prozent erhielten ähnliche Gliptine und ein kleiner Prozentsatz wurde auf eine neue Wirkstoffklasse umgestellt. Fazit: Ein vom Markt genommener Wirkstoff lässt sich bisher weitgehend schnell und problemlos durch andere Arzneimittel ersetzen.

Auch Befürchtungen, dass das AMNOG eine Innovationsbremse ist, haben sich nicht bewahrheitet. Die Pharmaindustrie kann neue Medikamente ein Jahr lang ohne Nutzenprüfung zu freien Preisen auf den Markt bringen. „Allerdings muss verhindert werden, dass durch völlig überhöhte Einstiegspreise die Finanzierungsfähigkeit des Solidarsystems gefährdet wird“, betont Rebscher. „Wir plädieren dafür, dass der ausgehandelte Preis rückwirkend für das erste Jahr des Markteintritts gilt.“ Professor Wolfgang Greiner ergänzt: „Wenn ein neues Arzneimittel Krankenhausaufenthalte reduziert oder langwierige Nachbehandlungen überflüssig macht, sollte nach den bisherigen Erfahrungen aus den Bewertungsverfahren auch dies im Rahmen der Ermittlung eines Erstattungsbetrages berücksichtigt werden.“ Gegengerechnet werden müssten allerdings Kosten von Nebenwirkungen oder Komplikationen, die mit dem Einsatz neuer Präparate verbunden sind, so Greiner.

Preisstopp und Zwangsrabatte sind gerechtfertigt

Medikamente, die vor dem Start des AMNOG auf dem Markt waren, werden keiner Nutzenbewertung unterzogen (Bestandsmarkt). Für diese Arzneimittel ist der Nutzen nicht bewertet. „Es ist bedauerlich, dass eine solche systematische Bewertung und die daraus resultierenden Informationen nicht erhoben werden“, kommentiert Professor Greiner. In der Folge bleiben zweifelhafte Medikamente auf dem Markt. Selbst wenn ihr Patent ausläuft, bleiben sie als Generikum erhalten. Der AMNOG-Report der DAK-Gesundheit zeigt jedoch auch: Zumindest aus finanzieller Sicht wird das Ende der Bestandsmarktbewertung kompensiert. Die nun fortgeführte direkte Preisregulierung durch ein Moratorium und einen Kollektivrabatt sind in etwa so groß wie der anzunehmende Preiseffekt durch Neuverhandlungen des Bestandsmarktes.

Es bleibt allerdings die problematische Unkenntnis der Qualität für Patienten. Würde man die bislang durchschnittlich verhandelten Nutzenrabatte berücksichtigen, würden sich die potenziellen Einsparungen im Bestandsmarkt und die Effekte durch die nun verlängerten Instrumente ungefähr ausgleichen.

Die DAK-Gesundheit ist eine der größten gesetzlichen Kassen in Deutschland und versichert 6,2 Millionen Menschen. 2014 gab sie 3,6 Milliarden Euro für Arzneimittel aus. Nach den Ausgaben für Krankenhausbehandlungen waren Arzneimittel damit der zweitgrößte Ausgabenblock.

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