Hilfe – mein Kunde möchte denken, aber er darf nicht!

Wie bedient man heute Kunden, die keine „Vollpfosten“ sind…? Das ist die Frage, die unseren Gastblogger Karsten Schiefelbein umtreibt. Im ersten Teil seines Tagesbriefing-Gastbeitrags wagt er einen Blick in die Zukunft des Autokaufs – und wer sich fragt, was das mit Versicherungsvertrieb zu tun hat, wird sicher schnell eine Antwort finden…

PKW-Kauf im Jahre 2020 – (Hoffentlich) ein Märchen

Von Karsten Schiefelbein

Wir schreiben das Jahr 2020.

Das Ehepaar M. betritt eines dieser hypermodernen und nach unzähligen ISO-Normen zertifizierten Autohäuser, um sich seinen Traum erfüllen. Nach seinem langen Berufsleben möchten seine Frau und er sich ihren Traum in Form eines schicken Roadsters erfüllen.

Auf dem Weg in die Ausstellung werden die beiden höflich von einem jungen Mann angesprochen, der sich als First-Information-Agent ausweist. Vor Erteilung der Zutrittserlaubnis für die Ausstellung müsse er im Auftrag des Hauses die Erstinformationen über das Autohaus aushändigen, das schreibe schließlich das Gesetz vor.

Er führt die beiden in ein schickes kleines Beratungszimmer und legt ihnen 12 Seiten Kleingedrucktes mit Informationen über das Autohaus inkl. Geschäftsbedingungen, Beschwerdestellen und CO2-Bilanz vor. Diese seien erst einmal zur Kenntnis zu nehmen und diese Kenntnisnahme müsse er sich durch Unterschrift der beiden bestätigen lassen.

Herr M. runzelt die Stirn und sucht auf der letzten Seite die Unterschriftsfelder, doch der FIA unterbricht ihn: Der Verbraucherschutz schreibe vor, dass er sich als FIA vergewissere, dass beide Ehepartner die 12 Seiten auch wirklich vollständig durchlesen und danach müsse er ihnen für die sicherlich dazu auftretenden Fragen zur Verfügung stehen.

Eine halbe Stunde später ist die Prozedur bewerkstelligt. „Können wir jetzt in die Ausstellung?“, fragt Herr M.
„Nun“, entgegnet der FIA, „Im Rahmen unseres strukturierten Beratungsprozesses wird unsere nette Kollegin jetzt erst einmal die gesetzlich vorgeschriebene Car-Analyse (CA) durchführen“.

Er lässt die beiden allein, 5 Minuten später betritt die CAA (Car-Analyse-Agent) den Raum und beginnt ihr softwaregestütztes Analyse-Gespräch:

CAA: Besitzen Sie beide einen Führerschein?
Herr M.: Nein, nur ich.
CAA: Moment dann bitte.

Sie verlässt den Raum und kommt 3 Minuten später mit einem 2-seitigen Formular zurück. Mit diesem ist Frau M. zu belehren, dass der etwaige Kauf eines Fahrzeugs nicht für sie zum Anlass zu nehmen sei, dieses auch im Straßenverkehr zu führen.

Frau M. schaut verdutzt: Ja, ich habe doch auch gar keinen Führerschein.
CAA zuckt die Schultern: Nun, der Gesetzgeber möchte, dass ich Sie darauf aber noch einmal hinweise. Ist ja nur zu Ihrem Besten. 

Herr M. wird langsam ungeduldig: Gute Frau, wir haben nicht ewig Zeit.

Die CAA zeigt sich unbeeindruckt. Vorschrift ist Vorschrift, und die ISO 765X schreibt einen strukturieren Prozess vor.

Teil A – Familienanalyse

CAA:  Wir beginnen mit Teil A – Familienanalyse. Wer lebt in Ihrem Haushalt?
Herr M.: Nur meine Frau und ich.
CAA: Haben Sie keine Kinder?
Herr M.: Doch, aber die beiden sind ja lange aus dem Haus und haben inzwischen selbst Familie.
CAA: Kommt es gelegentlich zum Treffen mit ihren Kindern?
Herr M.: Ja, natürlich, wir kommen ja gut miteinander aus. 
CAA: Wenn Ihre Kinder mit ihren Familien Sie besuchen, reisen sie dann mit einem eigenen Fahrzeug an?
Herr M.: Mein Sohn mit seiner Familie schon, meine Tochter und ihr Mann reisen für gewöhnlich mit der Bahn an. Aber was interessiert Sie das eigentlich?
CAA: Das ist Bestandteil unserer CA. Wir erarbeiten mit unserem Kunden ein Fahrzeugprofil. Ganz individuell und systemgestützt, alles in Ihrem Interesse. Zurück zu Ihrer Tochter. Sie sind dann also zu viert, richtig?
Herr M.: Ja.
CAA: Werden Sie nach dem etwaigen Kauf eines Neufahrzeugs in Ihrem Haushalt noch ein weiteres Automobil zur Verfügung haben?
Herr M.: Nein, unser alter Golf soll dann verkauft werden.

Die CAA tippt die Befragungsergebnis in ihr Tablet ein und fährt fort.

Teil B – Einkommensanalyse

Erfassung der monatlichen Einkünfte und Ausgaben inkl. vom Kunden nicht zu überblickenden Zukunftsrisiken. Die CAA belehrt die beiden, dass die Anschaffung eines PKW Folgekosten nach sich zieht:
– Energiekosten
– Steuern
– Maut
– Wertverlust
– Wartung
– …

Die Analyse zeigt schließlich, dass Frau und Herr M. für ihr Fahrzeug monatlich freie Mittel in Höhe von 866 € zur Verfügung haben.

Teil C – Vermögensanalyse

CAA: Nun kommt Teil C – Vermögensanalyse. 
Herr M.: Wie bitte?
CAA: Nun, ich muss das doch überprüfen. Möchten Sie ihr Fahrzeug voraussichtlich finanzieren oder auf Einmal bezahlen?
Herr M.: Ich habe noch nie ein Auto auf Kredit gekauft, ich zahle immer bar.
CAA: Gut, dann erfassen wir jetzt Ihre Vermögenssituation. Wir möchten Sie zunächst darauf hinweisen, dass der Kauf eines Fahrzeugs eine bedeutende Reduzierung Ihrer freien Geldmittel nach sich zieht. 
Herr M.: Nein, wer hätte das gedacht.
CAA: Wir analysieren jetzt, ob die verbleibenden Mittel ausreichen, um Ihren Lebensstandard sicher zu stellen.

Das Ehepaar M. gibt sich mittlerweile geschlagen und deklariert artig alle vorhandenen Vermögensanlagen inkl. Risikostruktur und Kündigungsfristen. Die CAA erfasst alles ordnungsgemäß in ihrem Tablet.

CAA: OK, 27.350 € stehen zur Verfügung. 
Herr M.: Das ist doch wohl meine Entscheidung. Sie haben doch soeben über 300.000 Euro erfasst.
CAA: Mein System sagt: 27.350 €.

Herr M.: wirft einen Blick auf ihr Tablet. Die Summe steht tatsächlich dort, mit einem mindestens 2 cm dicken grellroten Rahmen umrandet. Er will wissen, wie das System auf diese Summe gekommen ist. Die Sache klärt sich auf: Sein Bausparvertrag steht laut System nicht zur Verfügung.

Herr M.: Gute Frau, genau da liegen doch die 50.000 €, die ich für unser Fahrzeug gerne ausgeben möchte.
CAA: Das System sagt, dass Bausparguthaben nicht für eine PKW-Anschaffung nicht genutzt werden sollten. Schließlich sei davon auszugehen, dass das Geld für wohnwirtschaftliche Zwecke reserviert bleiben muss.
Herr M.: Das Geld kann ich doch wohl nutzen, wie ich es will. Unser Haus ist abgezahlt und vor 2 Jahren vollständig saniert, also brauche ich die 50.000 Euro nicht für wohnwirtschaftliche Zwecke. Im Übrigen hat Ihr System doch meine ganzen Aktiendepots erfasst.
CAA:  Die brauchen Sie lt. System für Ihre Altersversorgung. Wir dürfen nicht zulassen, dass der Kauf eines Fahrzeugs für Sie zur Altersarmut führt.

Sie denkt nach. 

Aber ich glaube, wir lösen das mit dem Bausparvertrag.

Sie verlässt erneut das Zimmer und kommt eine viertel Stunde später mit einer säuberlich verfassten Erklärung zurück. Frau und Herr M. müssen auf dieser mit ihrer Unterschrift erklären, dass ihr Haus vollständig und saniert ist und sie über die Folgen aufgeklärt wurden, die die Auflösung des Bausparguthabens nach sich zieht. Wir wurden darüber belehrt, dass die 50.000 Euro nicht mehr für andere Zwecke zur Verfügung stehen, wenn sie für die Anschaffung eines PKW eingesetzt werden.

Aha, denkt Herr M., gut zu wissen.

Herr M.: Können wir dann?
CAA: Ja, sofort. Ich muss eben noch vermerken, dass Sie uns vor Unterzeichnung eines PKW-Kaufvertrages den Nachweis über die Lastenfreiheit ihres Grundbuchs und die Sanierung in Form von vollständigen Kopien der Handwerkerrechnungen  beibringen.
Es sind mittlerweile über 2 Stunden vergangen, Herr M. drängelt:
Können wir jetzt endlich in die Ausstellung?
CAA: Gerne. Das Gesetz sieht vor, dass jetzt eine 20-minütige Erholungspause erfolgt, damit sichergestellt ist, dass eine etwaige Kaufentscheidung auf Basis vollständiger körperlicher Ausgeglichenheit der Kunden erfolgt. Von daher lasse ich Sie jetzt allein, bedienen Sie sich bitte mit Wasser und Kaffee, der SRA (Show-Room-Agent) holt Sie dann ab.

Das Ehepaar M. hat mittlerweile jeden Widerspruchsversuch aufgegeben und wartet auch diese 20 Minuten ordnungsgemäß ab.

Der SRA stellt sich den beiden vor und führt sie durch das Autohaus. Der Spaziergang endet vor einem dunkelgrauen Familien-Van.

SRA: Wenn Sie dann bitte einmal das Fahrzeug in Augenschein nehmen möchten.

Frau und Herr M. schauen sich verdutzt an. Guter Mann, bemerkt Herr M., wir interessieren uns für einen schicken Roadster und nicht für eine Familienkutsche!
SRA: Mein System zeigt mir an: Ergebnis CA: Kategorie Van, mittleres Preissegment, defensive Motorisierung.
Jetzt wird’s Herrn M. zu blöde: Es platzt aus ihm heraus:
Verdammt noch mal – darf ich gefälligst noch selbst entscheiden, welches Fahrzeug für mich in Frage kommt…?!
brüllt er durch die Ausstellung. Sein Kopf ist knallrot.

Der SRA lässt sich nicht aus der Ruhe bringen:
Das System schützt Sie nur vor Fehlentscheidungen, die Sie als Verbraucher nicht überblicken können. Die CA hat ergeben, dass sich bei Ihnen die Situation ergeben kann, dass Sie ein Fahrzeug mit mindestens 4 Sitzgelegenheiten benötigen.

Er tippt auf seinem Tablet herum.

Ja, hier steht’s: Gelegentlicher Besuch der Tochter mit Ehemann ohne eigenes Fahrzeug, daher kann die Situation entstehen, dass diese beiden in Ihrem Fahrzeug Platz finden müssen. Macht also 4 Personen. Daher hat unser System die Fahrzeugkategorie Roadster gesperrt, weil diese nur über 2 Sitze verfügt.

Herr M. hat mittlerweile seine guten Manieren abgestellt: Ihr System kann mich mal am Ar… lecken.

Doch der SRA ist zertifizirter SRA und hat damit geprüfte Kenntnisse, mit aufmüpfigen Kunden gelassen umzugehen:

Unser System wurde von drei der führenden Zertifizierungsstellen ausgezeichnet, außerdem sind wir in 4 Fachjournalen Testsieger (er zeigt mit dem Finger auf die großen an der Wand angebrachten Testsiegel und Zertifikate) – als vorbildliches Autohaus müssen wir unsere Kunden vor eigenen Fehlentscheidungen schützen, wir würden uns ohne den Einsatz eines solchen Systems ja auch entsprechenden Haftungsrisiken aussetzen.

Erst vor Kurzem hat der BGH einem Kläger Recht gegeben, der es nicht geschafft hat, seine beiden Kinder mit ihm zusammen in einen zweisitzigen Roadster unterzubringen, der zuständige Verkäufer hatte einen groben Beratungsfehler gemacht und die Familiensituation nicht hinreichend beleuchtet. Er hätte den Kunden fragen müssen, ob nicht in den nächsten Jahren noch mit Nachwuchs zu rechnen ist; hätte er das getan, wäre der völlig übervorteilte Kunde vor der Fehlentscheidung in Form des Kaufs eines Roadsters geschützt worden.

Völlig zu Recht hat der BGH daher dem Kunden das Recht gegeben, den Kaufvertrag für den für ihn völlig ungeeigneten Roadster nach 14 Jahren anzufechten und das Autohaus verpflichtet, den Kaufpreis vollständig nebst entgangener Zinsen zu erstatten….

An dieser Stelle breche ich die kleine Geschichte mal ab und überlasse es Ihrer Phantasie, ob es noch zum Abschluss eines Kaufvertrages kommen wird.

Was hat das alles mit unserer Branche zu tun? Nun, das erfahren Sie im zweiten Teil meines Tagesbriefing-Gastbeitrags – nach dem Motto: Wie bedient man heute Kunden, die keine „Vollpfosten“ sind…?


Über den Autor

Karsten_SchiefelbeinKarsten Schiefelbein arbeitet seit 1990 in der Finanzbranche als Vermittler, seit 1996 existiert die mit seinem Partner Sascha Kopotsch gegründete CREATiVA Finanzmakler GmbH. Sein beruflicher Schwerpunkt ist die Immobilienfinanzierung, der seines Partners die Berufshaftpflichtversicherung für technische Berufe. Neben der eigentlichen Vermittlungstätigkeit prägen zunehmend selbst entwickelte EDV-Projekte seinen beruflichen Alltag, die er einerseits in der Beratung einsetzt und andererseits auch davon losgelöst der Allgemeinheit zur Verfügung stellt.

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